Wo kommst du her? Und wo willst du hin?

Fliehen. Sie musste hier raus.
Einfach nur weg.
Schnell weg.
So schnell, wie das als schwangere Frau nun mal geht.

Sie lief und lief.
In die Wüste.
Sterben? War das ihr Wunsch?
Sie wusste es nicht.

Sie wollte nur noch weg von Abram und seiner Frau.
Sein „Mach mit ihr, was du willst“ hallte noch in ihren Ohren.
Sarai machte mit ihr, was sie wollte.
Sie kannte keine Gnade mehr.

Ein Wunder, dass das Kind in ihr noch lebte, bei dieser Quälerei.

Hagar lief bis zum Brunnen.
Dort setzte sie sich und trank.
Die Gedanken in ihrem Kopf liefen weiter.
Drehten sich im Kreis.
Hin und Her. Her und Hin.

„Wo kommst Du her?
Und wo willst Du hin?“
fragt der Engel.

Gute Fragen.

Gute Fragen, denen wir einmal nachgehen sollten.
Hier und Jetzt oder vielleicht mal in einer ruhigen Minute in der nächsten Woche oder im nächsten Urlaub.

„Wo kommst du her?
Und wo willst du hin?“

Hier und jetzt.
Wo kommst du her? Da ist sicher nicht nur mein Geburtsort gemeint.
Ich komme vom Meer. Ich trage die Weite in mir. Ich spüre den Wind in den Haaren. 
Das ist mein Sehnsuchtsort.
Aber da wo ich herkomme war nicht nur Weite. Da war auch viel Enge. Viele Gebote und Verbote.
Nicht zu Hause, aber in der Gemeinde. Glaubensweite habe ich erst später kennengelernt. Dass da keine Angst im Glauben sein muss, sein darf. Dass ich keine Angst vor Gott haben muss und dass ich nicht in die Hölle komme. Dass der Glaube frei macht. Dass die Liebe Gottes frei macht und mich sieht, wie ich bin, da komme ich nicht her.

Wo kommst Du her? Was und wer hat dich geprägt? Welches Gottesbild begleitet dich?
Welchen Glaubensweg bist du gegangen? Wer bist du geworden in all diesen Jahren?

Dass da keine Angst im Glauben sein muss, sein darf. Dass der Glaube frei macht. Dass die Liebe Gottes frei macht und mich sieht, wie ich bin, da komme ich nicht her.

Aber da will ich hin. Immer mehr.
Hin zu einem Gott, der mich sieht und frei macht.
Hin zu einem Gott ohne Angst. Und ohne Angst in die Hölle zu kommen.
Hin zu einem Glauben, den wir von Hagar lernen können.
Hin zu einem Gott, der mein Hirte ist.
Die Eine, die mich sieht und ruhig schlafen lässt.
Die Eine, bei der ich geborgen aufwachen kann.
Gott, Vater und Mutter. Der Eine. Die Eine.
Gott. Mehr, als wir jemals wissen und verstehen und uns vorstellen können.
Gott. Immer der ganz Andere.

Da will ich hin. Mich immer wieder herausfordern und hinterfragen lassen.
Von Gott. Von Menschen. Mit Liebe.
Da will ich hin.
Und ich wünsche mir, dass wir auch als Gemeinde immer mehr dahin kommen.
Das wir die Menschen so sehen, wie Gott sie sieht.
Dass wir Liebe ohne Angst predigen.
Dass wir Raum geben für Fragen und Zweifel.
Dass wir Raum geben Dinge zu hinterfragen, die schon immer so waren,
wenn wir merken, dass dadurch Menschen eingeengt und verletzt werden.
Dass wir barmherzig sind, weil Gott barmherzig ist.
Und die Menschen so sehen, wie Jesus sie angesehen hat.
Bedingungslos geliebt.
Denn nur wenn ich so angesehen werde, bin ich überhaupt in der Lage mich selbst anzusehen.
Denn nur wenn ich mit Liebe angesehen werde, bin ich bereit mich zu hinterfragen und verändern zu lassen.
Und ja, vielleicht ist es manchmal einfacher, wenn wir klar wissen, was gut und was falsch ist.
Vielleicht ist es einfacher, wenn wir klar sagen können was Sünde ist und was nicht und wer Sünder ist und wer nicht.
Schwarz und weiß, hell und dunkel. Himmel und Hölle. Klar wäre das manchmal einfacher.

Aber so ist Gott nicht. So war Jesus nicht auf der Erde unterwegs. Er hat zu allererst den Menschen gesehen und geliebt. Bedingungslos. Zachäus, Maria Magdalena, Petrus.
Oder im alten Testament. Jakob den Betrüger, Abraham den Vergewaltiger, denn nichts anderes macht er hier in dieser Geschichte mit Hagar; das war keine gut bezahlte Leihmutterschaft, Mose, den Mörder, usw.

Alle berufen und Stammväter. Alle angesehen trotz ihrer Schuld und mit ihrer Schuld. Und Gott ist barmherzig. Er lässt nicht Gnade vor Recht ergehen. Gnade ist sein Recht. Denn wenn er die Menschen nicht gnädig ansehen würde, dann wäre er nicht mehr der Schöpfer der Welt. Gnade ist sein Recht.

„Wo kommst du her?
Und wo willst du hin?“
fragt der Engel in der Wüste.

Diese Fragen stellen sich oft erst in der Wüste.
Wenn alles läuft, ist alles klar.
In Wüstenzeiten stellen wir uns in Frage.
Wir sind am Ende. Wie Elia. Wie Hagar.
Es ist genug. Gott. Ich kann nicht mehr.
Am Ende mit unserer eigenen Weisheit.
Zweifel kommen. Wo ist Gott?

Wüstenzeiten stellen Fragen.

„Wo kommst du her?
Und wo willst du hin?“
fragt der Engel in der Wüste.

Hagar antwortet:

„Ich bin geflohen vor meiner Herrin.“

Und der Engel sagt:
„Kehre wieder zurück und demütige dich unter ihre Hand“.

Wie bitte?

Zurück?!
Mich demütigen lassen von morgens bis abends?
Gewalt aushalten. Angst haben um mich und mein Kind?
Dein gottverdammter Ernst?

Zurück.
Wir müssen alle wieder zurück.
Spätestens morgen.
Andere heute schon.
Zurück in das Zuhause, was kein Zuhause ist, weil es dort Gewalt gibt.
Zurück in die Schule, in der der Druck übermenschlich ist und du wieder die bist, die gemobbt wird.
Auf die es die anderen abgesehen haben.
Das geht auch auf der Arbeit. Der Kollege, der es einfach nicht lassen kann und immer dann hinsieht, wenn Du gerade einen Fehler gemacht hast.
Damit er sich unentbehrlich machen kann. Macht demonstrieren.
Wir müssen alle wieder zurück.
Zurück in unseren Alltag.

Zurück in einen Alltag, der aber auch für die meisten von uns privilegiert ist.
Wir sind weiß, gutbürgerlich.
Verheiratet, Kinder, Haus und Garten.
Die meisten von uns werden nicht wegen ihrer Hautfarbe, Sexualität oder ihrer sozialen Herkunft diskriminiert.

Bei Hagar war das anders. Sie war ein Mensch zweiter Klasse.
Über sie wurde bestimmt. Niemand redete mit ihr. Sie war unsichtbar.
Sie war ein Objekt. Eine ägyptische Sklavin. Ein Sexobjekt.

Dieser Text gibt uns viele Fragen mit. Fragen an Abraham und Sara.
Fragen an das Familienbild des Alten Testamentes, das ganz bestimmt nicht das unsere ist.
Auch Fragen an uns als Kirche und als Gemeinde wie wir mit sexualisierter Gewalt umgehen.
Fragen an uns und unseren Umgang mit Menschen, die heute unsichtbar sind, über die wir hinweg sehen, mit denen wir nicht reden.

Fragen.

„Wo kommst du her?
Und wo willst du hin?“

Und dann dieses Zurück.
Auch dieses Zurück des Engels stellt Fragen.

Zurück?!
Ja.

Eine Zumutung Gottes.
Aber ich glaube wenn Du die Fragen des Engels „Wo kommst du her und wo willst Du hin?“ beantwortet hast, dann kannst du wieder zurück gehen.

Ja, du musst zurück, sagt der Engel zu Hagar:
Aber du wirst eine andere sein.
Du bekommst das gleiche Versprechen wie der große Abraham.
Deine Nachkommen werden unzählbar sein.
Gott hat dein Elend gehört und gesehen.
Gott hat dich gehört und gesehen.
Du bist nicht mehr allein.

Und sie gab Gott einen Namen.
Als Frau.
Als erster Mensch überhaupt.

Du bist ein Gott, der mich sieht.

Da komme ich her und da will ich hin.
Gesehen. Von Anfang an. Vom Anfang der Schöpfung. Wunderbar gemacht.
Das ist mein Ursprung. In Gott. Als Ebenbild Gottes.
Geschaffen. Gesehen. Geliebt.
Und das gilt für jeden Menschen.
Für Hagar, für Sara, für Abraham.
Jakob und Ismael – die versprochenen Kinder.
Juden, Muslime, Christen.
Geschaffen. Gesehen. Geliebt.
Unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht, sexueller Orientierung,
arm, reich, gesund, krank und welche Klassen wir noch alle aufmachen wollen.
Geschaffen. Gesehen. Geliebt.
Das ist der Ursprung unseres Glaubens.
Das wir an einen Gott glauben der jeden Menschen als Ebenbild Gottes geschaffen hat.
Und das muss ich nicht erst werden. Das bin ich.
Das musst du nicht erst werden. Das bist du.

Und wenn die Wüste kommt und sich Fragen stellen.
Wenn der Zweifel größer ist als der Glaube.
Wenn die Angst vor der Hölle wieder da ist.
Wenn du wieder denkst, dass das was du bist und was du tust nicht ausreicht.
Wenn du denkst, dass du besser und mehr glauben musst.
Dass du besser und mehr beten musst.
Dass du anders lieben musst.
Dass du anders sein musst.

Dann sage ich Dir und mir im Namen Gottes.
Nein. Es ist genug!
Gott ist ein Gott, der dich sieht.
Er ist dein guter Hirte, der weiß was du brauchst.
Gott ist die Schöpferin, die dich genauso geschaffen hat, wie du bist.

So angesehen können wir zurück gehen.
Auch wenn es schwer wird. Auch wenn es eine Zumutung wird.
Aber wir gehen nicht allein. Wir gehen als Angesehene Menschen Gottes.
Als Menschen, denen ihre Schuld vergeben ist und die das Kreuz im Rücken und Jesus, den auferstandenen Christus fest im Blick haben.

Wir können als Menschen gehen, die frei sind und ohne Angst.

So angesehen kannst du weitergehen.
Der Herr ist dein Hirte.
Und dein Gott ist ein Gott, der dich sieht.

Herr, wohin sollten wir gehen?
Du hast Worte des ewigen Lebens. Amen

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Predigt zu Genesis 16, 1-16; gehalten am 14. April 2024 in der EFG Berlin-Staaken

Bild: Z2sam / photocase.de

dreck & auferstehung

du legst deinen finger in meinen dreck
und das heilt meine wunden
du malst mit deinem finger dein kreuz
ganz sacht auf meine stirn

im staub gesehen
mit staub gezeichnet
aus staub auferstehen

ich lege meinen finger in deine seite
und das lässt mich glauben
du malst mit deinem finger dein kreuz
ganz sacht in meine hand

im staub gesehen
mit staub gezeichnet
aus staub auferstehen

du schmierst den dreck auf meine augen
und das lässt mich sehen
du malst mit deinem finger dein kreuz
ganz sacht in meinen blick

im staub gesehen
mit staub gezeichnet
aus staub auferstehen

du siehst den dreck in mir drin
und das macht mich heil
du malst mit deinem finger dein kreuz
ganz sacht in mein herz

in meinem dreck siehst du schon das leben
in meinen dreck zeichnest du dein leben
mit meinem dreck kann ich zu dir gehen
aus meinem dreck lässt du mich auferstehen

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Zum Aschermittwoch nach 1. Mose 2,7; Johannes 8; Johannes 9,8; Johannes 20,27
Bildnachweis: gorrinbel@unsplash.de




zwischen den jahren

zwischen sternen und himmelskind
glitzer und feuerwerk
sind wir die, die wir waren
sind wir die, die wir in diesen
365 tagen gewachsen sind

zwischen vorsätzen und nachklängen
abschieden und neuanfängen
sind wir die, die wir waren
sind wir die, die wir in diesen
365 tagen gewachsen sind

mal laut, mal leise
mal doof, mal weise
mal erwachsen, mal kind
mal fremd, mal zuhause
mal sehend, mal blind
mal fragend, mal suchend
sind wir die, die wir waren
sind wir die, die wir in diesen
365 tagen gewachsen sind

ich mit dir und alleine
schreiend im walde
tanzend in der küche
stolpernd auf wegen
bergauf und bergab
den himmel im blick
jetzt.

zwischen sternen und himmelskind
glitzer und feuerwerk
bin ich die, die ich war
bin ich die, die ich in diesen
365 tagen gewachsen bin

zwischen vorsätzen und nachklängen
abschieden und neuanfängen
bin ich die, die ich war
bin ich die, die ich in diesen
365 tagen gewachsen bin

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